Werktätige Zeichnerin

Susi Jirkuff

Werktätige Zeichnerin

Ein Essay von Eva Maria Stadler

Weißt Du mein Schatz, wir brauchen nun mal Fürsorge und keinen Ausdruck, und da müssen wir nicht immer so authentisch tun und festhalten an einer Liebe, die uns zustößt oder an einem Beruf, in dem wir uns verwirklichen können und dauernd Selbst anhäufen, wenn uns das Kapital fehlt. Wir brauchen Fürsorge. Und das wird ganz ausdruckslos sein, wenn wir sozial sind.[1]

Die Geister hauchen Figuren, Gegenständen und Landschaften Leben ein, lassen Linien tanzen, flimmern und flirren. Durch das Licht des Projektionsstrahls hindurch suchen sie sich den Widerstand der Fläche, auf der sie für einen Augenblick sichtbar werden, um sich sogleich wieder zu verflüchtigen. Für Susi Jirkuff bietet die Linie die Möglichkeit, mit schnellem Strich zu skizzieren, zu umreißen, Formen zu generieren – zumindest vorläufig, denn im animierten Film erscheint die Linie nur kurz, verändert sich, nimmt eine andere Gestalt an oder transformiert sich, zum Teil mit Farbe gefüllt, zu Gebäuden, Landschaften oder Gesten wie dem Rauchen einer Zigarette.

Geführt wird die Linie am Computer. Kurven, Schwingungen und Drehungen, Knicke, Zacken und Faltungen sind präzise berechnete Operationen, Operationen, die sich des Vokabulars des angewandten Zeichenprogrammes bedienen. Susi Jirkuff zeichnet mit einer meist dünnen schwarzen Linie vor weißem Hintergrund am Computer. Die technischen Möglichkeiten erlauben ihr eine präzise Setzung des Striches sowie eine reine Zeichnung ohne Flecken oder Fehler. Man kann hier fast von einer synthetischen, berechenbaren Linienführung sprechen.

Der Stellenwert der Zeichnung steht nach wie vor im Wettstreit mit ihrer Mutter der Malerei. Obgleich sich das Medium vor allem durch seine Autonomiebestrebungen des 20. Jahrhunderts emanzipiert hat, kommt der Zeichnung Aufmerksamkeit nicht in jenem Maße zu wie der Leinwand, dem Film oder der Installation. Zu vorläufig, zu unfertig erscheint sie, als dass sich ihre Position im Kanon der Gattungen markant verändert hätte. Für eine Reihe von Künstlerinnen und Künstlern ist gerade diese Flüchtigkeit, Wendigkeit und Offenheit der Linie entscheidend, denn mit ihr kann ein Weg beschritten werden, der nicht ‚vorgezeichnet‘ ist, der sich verändern kann, nicht nur durch die Linienführung der Künstlerin/des Künstlers selbst, sondern auch durch die Blickführung der Betrachterin/des Betrachters. Ein wesentliches Merkmal der Zeichnung ist ihr Abstraktionsvermögen. Mit der Reduktion auf wenige Informationen und Zeichen ist die intellektuelle Leistung des Betrachters gefordert, die umrissenen Formen weiter zu denken. Jean Luc Nancy hat in seinem kleinen Buch zur Lust an der Zeichnung eine bemerkenswerte Sammlung von Stimmen zusammengetragen, die immer wieder auf dieses Moment der Abstraktion verweisen, wie etwa Alain Badiou, der von der reinen Zeichnung als der materiellen Sichtbarkeit des Unsichtbaren spricht.[2]

Gleichermaßen durch Offenheit und Entschlossenheit erlangt die Zeichnung Zeichencharakter. Susi Jirkuff eröffnet dieses Buch mit einer einzelnen etwas wackelig erscheinenden Linie, die etwa in der Mitte der Bildhöhe ansetzt und von links nach rechts unten führt. Die Linie scheint zunächst nichts anderes zu machen, als die Seite zu teilen. Ihre Wirkung ist aber ‚in erster Linie‘ darauf zurückzuführen, dass sie ihre eigenen Mittel ausstellt. Dies sind die Fehler durch die Führung einer nicht ganz ruhigen, nicht ganz kontrollierten Hand, das Vertrauen auf das Augenmaß in Analogie zur mathematischen Vermessung sowie die Möglichkeit, mit einer Linie Flächen voneinander zu trennen und dadurch Zeichencharakter zu erlangen.

Im kunsthistorischen Diskurs wird vor allem seit der Renaissance auf die enge Verknüpfung von Idee und Zeichnung verwiesen, wonach die Zeichnung als Schöpfungsakt gesehen wird. Ihre Unmittelbarkeit gilt auch heute noch als Garant für die Ausdruckskraft des künstlerischen Subjekts.

An diesem Mythos künstlerischer Authentizität kratzt Susi Jirkuff, zum einen indem sie die Zeichnungen mit dem Rechner fertigt, wodurch Wiederholbarkeit und Stereotypisierung in den Fokus geraten, zum anderen tut sie dies durch die Entwicklung spezifischer Narrationen als Ausdruck sozialer und visueller Typisierungen.

Küchenutensilien und eine Packung Kartoffenchips mit dem Aufdruck „Penny Save“ kombiniert Susi Jirkuff mit einem Text aus dem Song Suburbia der britischen Popgruppe Pet Shop Boys aus dem Jahr 1986: „I only wanted something else to do than hang around“. Weder das Besondere im Allgemeinen, noch das Allgemeine im Besonderen, vielmehr das Allgemeine im Allgemeinen sucht sie ins Bild zu bringen, nicht ohne einen kritischen Blick auf jene Clichés, mit denen das Leben in Vorstädten konfrontiert wird.

Auch wenn Socken auf der Wäscheleine zum Landschaftsbild mutieren oder das Lösen eines Kreuzworträtsels zu einer Reflexion über die Repräsentation durch soziale Rollen Anlass gibt, zeichnet Susi Jirkuff ganz buchstäblich Bilder des Alltäglichen, die Ausschnitte gesellschaftlichen Zusammenlebens wiedergeben, in denen das Subjekt vor allem dazu aufgerufen scheint, für sich selbst zu sorgen, sich Nahrung und Imagination mittels Fernbedienung zu organisieren. Fassaden von Hochhäusern, die an die durchökonomisierte Wohnmaschine Le Corbusiers denken lassen, oder die geometrische Anlage einer Wohnsiedlung symbolisieren die Utopie eines Lebens, in dem das Individuum für sich sein kann. Susi Jirkuff zeichnet weniger Szenarien sozialer Verwahrlosung als Bilder von Vereinzelung und fehlender Sinnstiftung. Die Zeichnung dient ihr dabei als Ausdrucksmittel ohne Ausdruck
. Denn mit dem schematisierten Einsatz der Linien zeichnet sie schematisiertes Leben, schematisierte Tätigkeiten, deren Dauer sie im Prozess des Zeichnens selbst zu erfassen sucht. Schlussendlich geht es darum, jene lange Weile sichtbar werden zu lassen, mit der die Figuren versuchen, ihr Leben zu leben.

In seinem Text „Lob des alten litauischen Regieassistenten im grauen Kittel“ spricht René Pollesch von der Ausdrucksnot, der sich Künstler und Künstlerinnen unterwerfen, um eine Rolle spielen, Kaffee holen oder ihre Geschichten erzählen zu dürfen. Pollesch plädiert für ein gelebtes Leben ohne Ausdruck, ohne heroische Geschichte, die sich selbst überdauern möchte. Der alte Regieassistent kennt keine Selbstverwirklichung, sein „Selbst bleibt völlig unausgedrückt“. In diesem Lossagen von diffusen Lebensversprechen sieht Pollesch eine Entlastung von dem Druck, kreativ sein zu müssen, eine Entlastung von dem Zwang, selbst zu sein.

Flexibilität, Mobilität und Eigenverantwortung sind die Schlagworte, mit denen das gesellschaftliche Subjekt voran getrieben wird. Sich selbst überlassen zu sein, bedeutet schließlich auch, dass jegliche soziale Verantwortung hintan gestellt werden kann. In diesem Szenario wirkt Polleschs Vorschlag, den Selbstausdruck zu verweigern, emanzipierend.

Ausdruckslosigkeit ist ein Terminus, der in den Zeichnungen Susi Jirkuffs jedoch ambivalent verhandelt wird. Wirken die Alltäglichkeit der Szenen, die Leere der Fassaden und Wohnanlagen auf Grund des Bildausschnitts und dem narrativen Fokus oftmals beiläufig, fast so, als versuchte die Künstlerin vehement, den Blick auf das Undramatische zu lenken, wie auf ein Kopfkissen, in dessen Knick eine Zimmerpflanze sichtbar wird – so sehr diese Szenen Spannungslosigkeit zu suggerieren vermögen, so sehr sind sie auch aufgeladen mit einer Fülle an Möglichkeiten, an Wendungen, die die Geschichte im nächsten Moment nehmen könnte.

Für die Ausstellung im Kunstverein Medienturm in Graz hat Susi Jirkuff eine umfassende Installation entwickelt, in der sie Zeichnung, animierte Zeichnung und Skulptur überblendet. Rainy Days ist ein Set, in dem private Räume wie Küche und Schlafzimmer mit Projektionen wie von einem Außen durchleuchtet zu sein scheinen. Es treten drei Figuren auf, ein Künstler, dessen Nachbarin und ein Kurator, die ihre wechselseitigen Beziehungen zu einander im Rahmen der Ausstellung verhandeln. Die möbelartigen Einbauten folgen der Formenstrenge des Minimalismus. Weiße Kuben mit scharfen Kanten entsprechen dabei eher dem Mobiliar des aktuellen Ausstellungsbetriebes mit seinen Sockeln und Podesten als der Gestaltungswelt des Möbels. Die Bett- und Tischkuben ergänzt Susi Jirkuff mit Wandzeichnungen von Täfelungen, Kommoden und Fensterrahmen und überschneidet damit verschiedene Realitätsebenen, fast als würde sie mit Theodor Adorno sagen wollen „Es lässt sich auch privat nicht mehr richtig leben“.[3] Es ist die allgegenwärtige Präsenz des Öffentlichen, der Susi Jirkuff durch die Kälte der „Einrichtung“ sowie durch die Permanenz medialer Transparenz eine monströse Wirkung verleiht. Längst haben die Kontrollmechanismen des Medialen Raum gegriffen, haben Beziehungen zu berechenbaren Operationen gemacht.

Das Leben zu zeigen, wie es ist, war die Losung, die Dziga Vertov ausgegeben hatte, als er Der Mann mit der Kamera drehte. Wertovs legendärer Film aus dem Jahr 1929, der den Tag in der Großstadt filmisch zu erfassen suchte, gilt als frühes Beispiel eines Dokumentarfilmes. Seine Leidenschaft für den Film ließ Dziga Vertov die Möglichkeiten der damals noch neuen Technologie ausloten, wobei schnell offensichtlich wurde, dass die Darstellung der Echtheit, von der er träumte, eine in höchstem Maße konstruierte ist. Berühmt wurde der Film aber nicht allein aufgrund seines Dokumentationsgehalts, sondern vor allem aufgrund der Reflexion des eigenen Mediums. Vertov zeigt den Kameramann, der genauso seiner Arbeit nachgeht, wie alle anderen Werktätigen der Stadt. Er zeigt die Apparatur und das Kameraauge und die Kamera hinter der Kamera. Für Susi Jirkuff ist dieses Verhältnis von künstlerischer Arbeit und medialer Reflexion insofern von Bedeutung, als sie sich selbst Produktionsbedingungen auferlegt, die sie als werktätige Zeichnerin auftreten lassen. Die Vielzahl der Zeichnungen, derer es bedarf, um einen animierten Film herzustellen, bedeutet ein diszipliniertes Arbeiten über einen langen Zeitraum hinweg. Diese Arbeitsform schließt Susi Jirkuff mit den von ihr dokumentierten Szenen kurz, denn sie bedient sich des Dokumentarischen als Aufzeichnungsform im buchstäblichen Sinne. Sie lässt Figuren mittels isolierter Gesten und Dialoge in Sphären zwischen dem Privaten und Öffentlichen auftreten. Eine Frau liegt auf dem Sofa – sie scheint in die Kamera zu blicken –, eine ältere Dame sitzt am Bettrand allein in einem Raum, wartend?

Ein Mann sieht an sich selbst herab auf den Boden, der Umriss seiner Schuhe trifft auf die Umrisslinien eines Teppichornaments.

Wie in Ernst Machs Selbstanschauung Ich (Fig.1), in der sich der Künstler auf einer Chaise Longue liegend zeichnet, ist das Sichtfeld begrenzt von seiner Augenbraue und seinem Lid, nur Teile des Körpers können wiedergegeben werden. Mach weist diese Begrenzung des Sichtfeldes, die gleich bleibende Schärfe sowie eine Verflachung im Bild als Fehler aus. Er problematisiert das „Ich“ als Zeichner, wie auch als denjenigen, den er zeichnet. In dem Filmstill von Susi Jirkuff greift eine grafische Homogenisierung um sich, die etwas Gespenstisches hat. Schuhe und Teppichmuster sind von der gleichen linearen Materialität, und scheinen ineinander überzugehen.

Doch besteht hier kein Anspruch, das Leben zu durchdringen, vielmehr geht es darum, mittels Abstraktion Brüche zwischen verschiedenen medialen Ebenen zu inszenieren.

Dem Bedürfnis, die Wahrheit ohne Zutun von verfremdenden Kräften aufzeichnen zu können, versuchten Generationen von Dokumentarfilmern nachzukommen. Und mit der Annahme, es gäbe einen abgrenzbaren Bereich des Wahren, gingen spezifische Darstellungsmodi einher, dem Realen auf die Spur zu kommen. Mehr und mehr differenzierten sich die Aufnahmeverfahren, wurde versucht, mit dem Offenlegen der Produktionsbedingungen den Wahrheitsgehalt zu erhöhen bzw. glaubhafter zu machen.

In ihrem Aufsatz Kunst oder Leben analysiert die Künstlerin und Theoretikerin Hito Steyerl die spezifischen dem jeweiligen Medium innewohnenden Bedingungen in Bezug auf das Verhältnis von Dokumentarismus und Leben. Eine besondere Rolle nimmt hierbei die Fotografie ein. Ihr wird der „Einlass des Lebens“ in das Medium bescheinigt, wie dies Siegfried Kracauer formuliert, wenn auch in begrenztem Umfange, denn „damit die Geschichte sich darstelle, muß der bloße Oberflächenzusammenhang zerstört werden, den die Photographie bietet.“[4] Kracauer kritisiert die Bedeutung der Fotografie als Gedächtnisbild und den an dieses geknüpften Wahrheitsgehalt.

„Wahrheit finden kann nur das frei gesetzte Bewusstsein, das die Dämonie der Triebe ermißt“[5] und nicht das Fragment des Ausschnitts. Während also Kracauer zufolge die Fotografie ein Gespenst ist, zeichnet sich der Film dadurch aus, dass er in der Lage ist, eine eigene Ontologie, ein eigenes Leben hervorzubringen. Entscheidend ist die Vorstellung vom Eigenleben des Filmes gegenüber den „toten“ Medien der Kunst hinsichtlich der Darstellung des Realen. Die Avantgarden waren bestrebt, Kunst und Leben zu vereinigen, ja gaben dies als Utopie aus, versuchten sich in Lebensformen einzuschreiben.

Susi Jirkuff begegnet dem Mythos des Realen einigermaßen skeptisch. Sie verzichtet auf das Aufnahmeverfahren von Fotografie und Film und vertraut auf die Zeichnung, auf Imagination und Narration, indem sie sich der formgebenden Kraft der Zeichnung verschreibt. Jean-Luc Nancy spricht in diesem Zusammenhang von der Zeichnung als von einem „Denken der nicht konformen noch verifizierbaren Form, das Denken der Form als sich formend, als selbstformende Form“.[6] Es handele sich um ein dynamisches Denken, um eine Geste der Offenlegung und Nancy zitiert an dieser Stelle Edgar Degas, der sagt: „Die Zeichnung ist nicht die Form, sondern die Art und Weise, die Form zu sehen“.[7]

Nun handelt es sich bei den meist animierten Zeichnungen jedoch nicht um eine differenzierte Form der Zeichnung, vielmehr versucht Jirkuff mit einer standardisierten Linie Menschen und Gegenstände zu umreißen, versucht Abdrücke von sozialen Konstellationen herzustellen, die sich als Schema fassen lassen. Besonders deutlich wird dies, wenn Susi Jirkuff minimale Bewegungen mehrfach wiederholt und auf diese Weise ein choreografisches Moment einführt. Die Bewegung ist nicht nur im Zusammenhang der Figuren von Bedeutung, sondern auch in Bezug auf die Zeichnung. Nicht die abschließende Form ist für Susi Jirkuff wichtig, sondern die fortwährende leichte Veränderung, der sie in der animierten Zeichnung Ausdruck verleiht.

Diese sich stets selbst verformende Form, die Modulation, ist für Gilles Deleuze eines der Kennzeichen, die den Übergang von der Disziplinargesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts zur Kontrollgesellschaft beschreibt. Im Gegensatz zur einschließenden Form, darunter versteht er zum Beispiel die Gussform, wäre die Modulation ein Zustand permanenter Veränderung.

Neben der Choreografie der Figuren arbeitet Susi Jirkuff mit Textzeilen und Liedstrophen aus Popsongs, die sie neben ihre Zeichnungen stellt.

„Now I sit with different faces / In rented rooms and foreign places / All the people I was kissing / Some are here and some are missing“, aus dem Song Being Boring der britischen Pet Shop Boys, 1990. Das Electropop-Duo entwirft in dem Lied das Bild einer Gemeinschaft, die in fröhlicher Melancholie vor allem sich selbst feiert. Für Susi Jirkuff bildet diese Form der Melancholie die Grundstimmung, die sie ihren Filmen und Installationen unterlegt. Es geht um die Stellung und Befindlichkeit des Individuums im sozialen Zusammenhang. In seinem Aufsatz „Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung“ behandelt Axel Honneth die Frage der Individualisierung vor dem Hintergrund ihrer historischen Voraussetzungen. Im Wesentlichen geht er von zwei Konzeptionen aus, die für das 20. Jahrhundert bedeutend waren. Dies ist zum einen die „Rationalisierung“, die von Max Weber als „schrittweise Ausdehnung von Maßstäben der Zweckrationalität auf soziale Sphären“[8] beschrieben wird, und zum anderen die Individualisierung, die Emile Durckheim als „Prozess einer wachsenden, unumkehrbaren Freisetzung der Gesellschaftsmitglieder von traditionellen Bindungen und stereotypisierenden Zwängen (versteht), die ihnen zu gröerer Wahlfreiheit und Autonomie verhilft.“[9] Ausgehend von diesen beiden Konzeptionen, beschreibt Axel Honneth eine Ökonomisierung des Selbst, die durch die ausufernden Ansprüche an Selbstverwirklichung stattgegeben wird, weil genau diese Selbstverwirklichung längst zur Produktivkraft des Kapitalismus geworden ist. Alain Ehrenberg wiederum sieht in diesem Phänomen den Schlüssel für die Erklärung für die rasante Zunahme des Krankheitsbildes der Depression, die unsere Gesellschaft kennzeichnet. Er beschreibt eine Leere, die sich durch die dauerhafte Introspektion, die dem Subjekt abverlangt wird, zwangsläufig einstellen würde.[10]

Auf diesen Zwang, „selbst sein zu müssen“, kann „Das Lob des alten litauischen Regieassistenten im grauen Kittel“ als eine Möglichkeit, frei zu sein, gelesen werden, denn: „Wir sind nur frei, wenn wir uns als abhängig begreifen, und wir sind nur abhängig, wenn wir unsere Abhängigkeit sukzessive zu überwinden trachten.“[11]

„Ach, ich möchte zurück nach Litauen! Wenn die in Litauen im Kittel rumstehen und Regieassistenten sind, die alt sind und ihre litauische Regieassistenzarbeit machen, die kleine spröde Arbeit. Die haben kein Bedürfnis nach einem ‚interessanten‘ Job. (…) Was über uns hinausgeht, ist nicht das Heroische. Was über uns hinausgeht, ist das andere Leben. Etwas, das von uns zeugt, ohne Ausdruck, ohne Erinnerung.“[12]

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[1] René Pollesch, „Lob des alten litauischen Regieassistenten im grauen Kittel“, in: Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, hrsg. von Christoph Menke und Juliane Rebentisch, Kadmos Berlin 2010.

[2] Jean-Luc Nancy, Die Lust an der Zeichnung, Passagen Verlag, Wien 2011, S. 107.

[3] http://de.wikipedia.org/wiki/Es_gibt_kein_richtiges_Leben_im_falschen#cite_note-2 Martin Mittelmeier: „Es gibt kein richtiges Sich-Ausstrecken in der falschen Badewanne“, in: Recherche – Zeitung für Wissenschaft, 31. Januar 2010, online, abgerufen 26. Februar 2010. Mittelmeier hat im Adorno-Archiv in Frankfurt die ursprüngliche Fassung ermittelt.

[4] Siegfried Kracauer, „Die Photographie“, in: Das Ornament der Masse, suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main, 1977, S. 27.

[5] ebd. S. 25.

[6] Jean-Luc Nancy, Die Lust an der Zeichnung, Passagen Verlag, Wien 2011, S. 23.

[7] ebd.

[8] Axel Honneth, Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung in: Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, hrsg. von Christoph Menke und Juliane Rebentisch, Kadmos, Berlin 2010, S. 63.

[9] Ebd.

[10] Ebd.

[11] Carl Hegemann, Freiheit ist grundlos etwas zu tun. Über die Zukunft eines Begriffs in Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, hrsg. von Christoph Menke und Juliane Rebentisch, Kadmos, Berlin 2010, S. 83.

[12] René Pollesch, „Lob des alten litauischen Regieassistenten im grauen Kittel“, in: Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, hrsg. von Christoph Menke und Juliane Rebentisch, Kadmos, Berlin 2010.