Wenn ich könnte…

„Wenn ich könnte, wär’ ich schon weg“

Zur Funktion des „Backdrop“ bei Susi Jirkuff

– ein Essay von Christian Höller

„Steh da nicht so rum“, herrscht eine Figur in Susi Jirkuffs Videoinstallation Boyz in the Wood eine zweite, ihr gegenüberstehende an. Die Arbeit, vom Titel her an John Singletons Spielfilm Boyz n the Hood aus dem Jahr 1991 angelehnt, enthält vielerlei ironische Wendungen. Da ist zunächst die Eindeutschung des afroamerikanischen Ghetto-Slangs, welche den „Trialog“ – es geht um die Konversation dreier, dezidiert cool wirken wollender Protagonisten – durchgehend kennzeichnet. So wird das provokante Kontra Huh, dude?“ zu einem indigen-österreichischen „Was denn, Oida?“ und die schnöde Ansage „Make like a fly and buzz off yourself“ zu einem nicht minder rotzigen, germano-phonen „Dann mach’ dich doch selbst mal vom Acker!“. War der Film Boyz n the Hood anno dazumal – die deutschsprachige Rezeption schwarzer HipHop-Kultur war noch jung – mit dem lapidaren Verleihtitel Jungs im Viertel versehen, so haben sich über 20 Jahre später eine ganze Menge jugendsprachlicher Afro-Amerikanismen (oder was dafür gehalten wird) in hiesigen Coolness-Idiomen niedergeschlagen. Wobei das in Teilen Österreichs omnipräsente „Oida“ nur eine matte Entsprechung zur früher in HipHop-Kreisen gängigen Bezeichnung „nigga“ sein kann.

Eine zweite signifikante Verkehrung, die Jirkuffs Boyz in the Wood vornimmt, betrifft das soziale bzw. kulturelle Setting des Gesprächsszenarios. Spielte in Singletons Werk wie auch in einer Reihe weiterer, so genannter „Hood-Filme“ die Neighborhood, zumeist ein ökonomisch benachteiligter bzw. städtebaulich heruntergekommener Stadtteil, gleichsam mit die Hauptrolle,[1] so ist es bei Jirkuff der Wald, ein ganz und gar nicht jugendkulturell kodierter Ort, der diesen Part einnimmt. So sehr darin Aspekte wie Rückständigkeit oder Hinterwäldlertum mit anklingen, so pointiert ist diese Verdrehung insgesamt: Was, wenn man der hiesigen HipHop-Kultur ihr überwiegend auf Projektionen beruhendes Biotop der „Ghetto-Hood“ einfach wegnähme und durch die von Natur aus friedlichere Umgebung des tiefen, tiefen Waldes ersetzte? Was, wenn das kriminell geprägte Viertel, in dem der tägliche Überlebenskampf tobt, einer trägen Idylle wiche, in der schlichtweg Langeweile und Nichtstun regieren? Boyz in the Wood treibt derlei Topos-Wendung auf die Spitze, indem das Dreier-Gespräch zusätzlich vom Motiv des Weg-Wollens (aber zugleich Nicht-Weg-Könnens) durchsetzt ist. Die Idee der freien (sozialen wie kulturellen) Mobilität wird durch das Setting des Waldes auf witzige Weise konterkariert, wo derlei Ansinnen, egal ob als sozialer oder karrieremäßiger Aufstieg gedacht, klarerweise keinen Sinn macht.

Aber im Weg-Wollen äußert sich noch eine weitere Dimension, die Boyz in the Wood gleichsam kulturtheoretisch unterfüttert. In klassischen Jugend- bzw. Subkulturstudien wurde lange Zeit genau dieses besondere Moment strapaziert, nämlich dass „Rituale des Widerstands“[2], egal ob sie sich in bestimmten Sprech- oder Kleidungsstilen, in speziellen Musikvorlieben oder in handfesten sozialen Aktionen ausdrücken, ein Hinter-sich-Lassen jener tristen Verhältnisse implizieren, in die man hineingeboren wurde und sonstwie hineingeraten ist. Die Überwindung von Klassenverhältnissen ist demnach der Idee von Subkultur, so fortschrittlich oder rückwärtsgewandt sich diese im konkreten Fall darstellen mag, fest mit eingeschrieben. Das Raus-Wollen aus den existierenden Sozialstrukturen ist der (vielfach utopische) Fluchtpunkt, auf den hin Jugendsubkulturen traditionell ausgerichtet waren, zumindest der Theorie nach. In Jirkuffs Dreier-Gespräch wird dieses Motiv explizit aufgegriffen, zugleich aber durch das komplementäre Narrativ des „Festsitzens“ ergänzt. Und das erneut ironisch zugespitzt (weil wörtlich genommen): Sind die drei Protagonisten doch keine Figuren aus dem realen Leben, sondern – kunstvoll gezeichnet bzw. animiert wie in den meisten von Jirkuffs Arbeiten[3] – auf ihre wesentlichen Züge reduzierte … Baumstämme! So zeigen die drei Monitore, montiert auf drei geometrisch abstrahierten Bäumen, drei „Baumstamm-Gesichter“, die mittels Augen (Astlöcher) bzw. Mund (Kerbe) animiert sind. Das Dreiergespräch dieser Figuren zeichnet sich außerdem dadurch aus, dass die drei – vorgegeben durch das räumliche Arrangement – konsequent aneinander vorbeireden.

Schließlich kommt in all dem noch eine vierte, vielleicht die wichtigste Wendung von Boyz in the Wood zum Ausdruck. Diese besteht darin, dass der Baum, üblicherweise ein Element des Landschafts- bzw. Umgebungshintergrunds, hier zur zentralen Figur avanciert. Ausgangspunkt dafür ist die wie aus einem Hörfehler resultierende Mutation von „Hood“ zu „Wood“, sprich die Ent-Dramatisierung des sozial aufgeladenen Zusammenhangs hin zu einem durch und durch neutral wirkenden Setting, dem Wald eben. Zugleich aber, und darin äußert sich eine häufig im Animationskontext eingesetzte humoreske Volte ab,[4] ist dieser Wald selbst wieder eigentümlich belebt: nicht durch irgendwelche Wesen, die hier ihr Versteckspiel treiben, sondern, eher profan, durch die sprechenden Bäume. An diesen lässt sich das jugendkulturelle Narrativ des Weg- bzw. Raus-Wollens aus den versteinerten Verhältnissen, das zumeist mit dem gegenläufigen Motiv des Festsitzens bzw. Immer-wieder-davon-eingeholt-Werdens einhergeht, umso pointierter, weil buchstäblicher durchexerzieren.[5] Kaum einer Erzählfigur könnte ihr Verwurzelt-Sein mehr im Weg stehen als einem tief im Boden ankernden Baum; kaum einer Figur könnte ihr Habitat mehr zum Verhängnis werden als jener in der „Hood/Wood“ – ist damit doch jegliche Transzendenz des tristen Daseins von vorneherein ausgeschlossen.

Jirkuffs Kunstgriff bei Boyz in the Wood besteht aber noch in einer zusätzlichen Wendung, nämlich indem sie die Baum-Figuren selbst auf witzige Weise abstrahiert. So werden die Körper von Säulen im Ausstellungsraum gebildet, von denen in schrägem Winkel die reduzierten Andeutungen von Ästen abstehen. Die Gesichter sind die Screens der Videoanimationen, die gleichfalls, so wie die Säulen/Bäume, in schiefen Winkeln zueinander platziert sind. Diesem Dreier-Szenario gegenüber befindet sich eine wandfüllende Grafik, die einen klassischen Animationshintergrund zeigt – die zeichnerische Darstellung einer Baumgruppe, die den Eindruck räumlicher Tiefe erweckt. Solcherlei digital gefertigte „Backdrops“ spielen in Jirkuffs Raum-Parcours (und darüber hinaus) eine wichtige Rolle, indem sie nicht nur platzgreifend eingesetzt sind, sondern auch wie selbstverständlich ohne irgendwelche Protagonisten oder sonstige Figuren auszukommen scheinen.

Im ersten Raum der dreiteiligen Erzählsequenz von Wild Wood (so der Titel der gesamten Ausstellung)[6] ist dieser „figurenlose“ Raum ganz von einer düster wirkenden, durch dunkle, massive Steine bzw. Stämme und Äste gerahmte Szenerie geprägt. Ließe sich angesichts dieses Settings noch mutmaßen, die sprechenden Baumfiguren – so immobil und angewurzelt sie auch scheinen mögen – seien gleichsam aus dem Bild gestiegen und stünden nun einfach „daneben“ (im wahrsten Sinn des Wortes), so ist im zweiten Raum das Arrangement um einiges komplexer. Hier ist die perspektivische Zeichnung einer Bushaltestelle direkt auf die Wand aufgetragen, mit einer realen Neonröhre als Beleuchtung und der großflächigen grünen Schraffur eines Gebüschs im Bildhintergrund. Davor, im Realraum, ist ein Quader platziert, als wäre die Sitzbank der Haltestelle in die dritte Dimension herausgestiegen, als hätte sie ein Eigenleben entfaltet, was durch die darauf gerichtete Projektion eines hellgrün schimmernden Spots noch unterstrichen wird.

Das gekonnte Verwirr-, ja Vexierspiel um Hintergründe, die zu Vordergründen bzw. zu aktiven Figuren werden, um Backdrops, die ein Eigenleben entwickeln, findet sich im dritten und letzten Raum von Wild Wood nochmals getoppt. Das raumgreifende Element sind hier die drei Baumstämme aus dem ersten Raum, die – der Form nach wie vergrößerte Zooms wirkend – kreuz und quer auf dem Boden liegen. Hinter ihnen, infolge der Hindernisse nur schwer zugänglich bzw. aus der Nähe betrachtbar, erstrahlt eine um die Ecke reichende und auf diese Weise dreidimensional konstruierte Doppelprojektion. Sanft wogen darin mehrere Gebüsche – erneut handelt es sich um florale Hauptfiguren – im Takt des selbst nicht sichtbaren, sie animierenden Windes. Dazu tönt, aus dem Off und höchst dezent eingesetzt, das Instrumentalstück „Summer Madness“ von Kool & The Gang.[7] Erneut ist hier die konventionelle Ordnung von Vorder- und Hintergründen, Figuren und ihren Settings, grundlegend durcheinandergebracht. Zwar könnte man den verquer im Raum liegenden Stämmen – bis hierher, aber nicht weiter haben sie es in ihrem „Weg-Wollen“ geschafft –einen gewissen Protagonistenstatus zuschreiben. Aber wichtiger scheint, dass das Gesamtnarrativ durch die betonte Zentralsetzung üblicher Hintergrundelemente wie Gebüsch (als Landschaftsteil) oder Musik (als stimmungsmäßiger „Backdrop“) weiter verdreht wird. Auf die starren, mortifizierten Figuren auf dem Boden, sofern man sie überhaupt je als Figuren betrachten konnte, blicken die beschaulich an der Wand wogenden Büsche geradezu mitleidig herab. Selbstgewiss scheinen sie um ihre tragende Rolle (oder zumindest ihre Funktion als Chor) zu wissen.

Dieser Freilegung oder besser: Autonomisierung des „Backdrop“ auf zeichnerischer bzw. gestalterischer Ebene korrespondiert insgesamt eine großflächig angelegte Verschiebung der Aufmerksamkeit in Jirkuffs Werk. So rücken in der Installation Wild Wood wie schon in früheren Animationsarbeiten häufig Hintergrundelemente in den Mittelpunkt, indem sie durch den grafischen Kunstgriff des Freistellens als eigenständige Elemente herauspräpariert werden. Auf diese Weise wird die Funktion des kontextuellen Hintergrunds, sei es eines einzelnen Motivs, einer Animation oder einer ausgewachsenen Erzählung, näher beleuchtet. Und zwar nicht indem dem gewählten Setting ein gleichsam deterministischer Status eingeräumt wird (die sozialen Umgebung, von der alles seinen Ausgang nimmt und sämtliche Handlungsaspekte bestimmt werden), sondern viel subtiler, indem einzelne Aspekte oder Bausteine dieses Settings in den Vordergrund treten und in den Handlungsstrang verwoben werden. Bei Wild Wood geschieht dies durch die erwähnten Verkehrungen, kulminierend in dem abschließenden Bild, in dem sich die Büsche „eins lachen“ und verächtlich auf die dummen Baumstämme herabschauen, die – wie hätte es anders sein können? – in ihrem lächerlichen Bestreben, „sich vom Acker zu machen“, nicht weit gekommen sind.

Das Ansinnen, sich über die betrüblichen Verhältnisse zu erheben oder ihnen zumindest vorübergehend zu entfliehen, kennzeichnet schließlich die ganze Palette jugend- bzw. subkultureller Narration, wie sie seit den 1960er-Jahren sei es in theoretischer oder in künstlerischer Hinsicht ausgebreitet wurde.[8] Boyz n the Hood, die Ausgangsfolie von Jirkuffs Wild Wood, stellt diesbezüglich ein schillerndes Beispiel dar, ist sein Setting doch jenes von South Central Los Angeles, das zur Zeit der Filmentstehung als ausgesprochenes „Gang Land“ galt und realiter eine der Geburtsstätten von Gangsta-Rap war. Zeitgleich, und hier setzt die Graphic Novel Wild Wood an, waren die sozial-ökonomischen Verhältnisse in vielen westlichen Industriestaaten derart heruntergewirtschaftet, dass dies in jugendkulturelle Szenen weit über die US-amerikanischen Rap-/HipHop-Biotope hinaus ausstrahlen konnte.

1991, dem Jahr, in dem Boyz n the Hood gedreht wurde und auch Wild Wood seinen Ausgang nimmt, waren die Auswirkungen von „Reaganomics“ und Thatcherismus so richtig zum Tragen gekommen bzw. auch in den letzten Winkeln der zunehmend verfallenden Städte spürbar geworden. South Central LA stellte zu der Zeit einen weltweit beachteten Brennpunkt dar, der 1992 im Zuge der LA Riots sogar kurz auf die weiße Mittel- und Oberschicht überzugreifen drohte. Aus musikalisch-jugendkultureller Sicht war der Stadtteil lange Zeit Projektionsfläche, von der her die globale Verbreitung von Gangsta-Rap (vielfach in Form lokaler Modifikationen) ihren Lauf nahm. Zeitgleich waren aber auch ehemalige englische Industriestädte wie Manchester in einem ökonomischen Strukturwandel gefangen, sodass auch von hier wieder verstärkt jugendkulturelle Narrative des Raus-Wollens-aus-den-tristen-Verhältnissen ausgehen konnten. War Manchester in den späten 1980er-Jahren eines der vorrangigen Ambientes der englischen Rave- und Techno-Szene gewesen,[9] so war zu Beginn der 1990er-Jahre der Boden bereitet für eines der damals anhebenden „Britpop-Wunder“. Jirkuff greift dieses Setting auf und entspinnt so eine Art Parallelerzählung zur Ausstellung, die – in Buchform – ungleich detailreicher als die „Hood-Installation“ ausgestaltet ist. Das Jahr 1991 ist dabei der Berührungspunkt, an dem sich beide Narrative gleichsam aus der Ferne tangieren. Ohne dass es um konkrete Überschneidungen oder Überlagerungen ginge, was die beiden Erzählmaterien betrifft, wird so ein Paralleluniversum eröffnet, das vielleicht auf ähnliche Determinanten zurückgehen mag, sich aber weitgehend autonom und eigenständig entfaltet. Womit erneut die spezielle Funktion des Hintergrunds, und wie er hier in Erscheinung tritt, in den Blick rückt.

Den Backdrop der „Graphic Novel“ bilden die tristen Lebensumstände in den Arbeiterbezirken von Manchester. Jirkuff holt dabei historisch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts aus, als die verheerenden Auswirkungen der ersten industriellen Revolution deutlich spürbar wurden und beispielsweise von Friedrich Engels in der Schrift Die Lage der arbeitenden Klassen in England (1845) auf das genaueste geschildert wurden.[10] Indem die Geschichte immer wieder Passagen aus diesem Buch aufgreift und mit gezeichneten Ansichten von Industrieanlagen bzw. Wohnvierteln des Proletariats kombiniert, wird dieser sozialhistorische Hintergrund reaktiviert und auf brisante Weise vergegenwärtigt. Man könnte auf Anhieb nicht sagen, ob die geschilderten Verhältnisse bzw. gezeichneten Ansichten in weiter Vergangenheit oder vielleicht doch im Hier und Heute, ja womöglich auch in einer noch nicht abschätzbaren Zukunft liegen. Vereinzelte Nachrichten-Einsprengsel über Drogenkriminalität oder kürzlich eingestürzte Häuser geben der Geschichte aber eine unmissverständliche Gegenwartsverankerung. Engels’ Ausführungen über die architektonische bzw. raumplanerische Anlage der Arbeiterviertel lassen sich unschwer auf heutige Verhältnisse umlegen und rücken so diese Art von Kontext, ja sozialpolitischen Zusammenhang, in das Zentrum der Geschichte.

Deren eigentlicher narrativer Strang ist einer Fiktionalisierung bzw. Verdrehung geschuldet, wie man sie schon in der Ausstellungs-Version von Wild Wood kennengelernt hat. Der kontrafaktische Plot besteht hier jedoch nicht darin, eine jugendkulturelle Figuration als Ensemble von sprechenden, nicht von der Stelle kommenden Bäumen zu inszenieren, sondern in einer ungleich „namhafteren“, sozusagen der Glamour-Variante dieses Narrativs: Was wäre gewesen, so spekuliert Jirkuffs Erzählanordnung, wenn jemand wie die Gallagher-Brüder ihr Outlet nicht im Musikmachen (und dem Welterfolg ihrer Band Oasis) gefunden hätten, sondern so wie viele Gleichaltrige in die Schattenökonomie des Drogenhandels getrieben worden wären? Doppelt fiktionalisiert wird diese Szenario, indem die Story als Projekt des sozialen engagierten englischen Filmemachers Ken Loach ausgegeben wird – „the bloody story of the Gallagher brothers [who] were heads of a transregional gang, which not only rules innerurban areas like Salford, Burnage or Cheetham Hill but reaches out to Liverpool, Glasgow or London.“ Ian und Joel, wie sie in pikanter Verdrehung bei Jirkuff heißen, haben klarerweise allerlei auf dem Kerbholz, auch schon diverse Gefängnisstrafen ausgefasst, sind inzwischen aber (zumindest der eine) in Sozialhilfeprojekten tätig. Die Geschichte wird in der Folge immer vielschichtiger, wobei diverse Hintergrundelemente immer zentraler in den Fokus rücken, seien es die High-Rise-Buildings, die den architektonischen Horizont der Ganglands bilden, sei es der bekannte Hoodie-und-Sneaker-Kleidungsstil, der die Figuren aussehensmäßig kennzeichnet, oder seien es Taschen voller Bargeld, woraus das auf Pfundnoten abgedruckte Gesicht der Königin strahlt. Und da ist auch noch der Satz „Don’t just stand there“ („Steh da nicht so rum“), der zum Auslöser des kriminellen Verhängnisses der beiden Brüder wird und als subtiles Bindeglied zu Boyz in the Wood, dem ersten Raum der Ausstellung Wild Wood, fungiert.

Zwei weitere Background-Elemente treiben indessen die Storyline der grafischen Erzählung voran. Das ist zum einen Phil Cohens Schrift Subcultural Conflict and Working-Class Community (1972), eine der klassischen Studien der Birminghamer Subkulturforschung der 1970er-Jahre,[11] woraus immer wieder zitiert wird und so ein weiterer Zeithorizont in die transhistorisch angelegte Geschichte eingebracht wird. Cohens Ausführungen fügen sich insofern bestens in das Setting, als bei ihm die blockweise gebaute Einfamilienzelle zum Angelpunkt des politisch interpretierten Generationenkonflikts wird. Zum anderen, und dies evoziert jene Stelle, die in der Ausstellung von dem Musikstück „Summer Madness“ eingenommen wird, sind auch zwei Songtexte eingestreut. Diese stehen archetypisch für das Manchester der späten 1970er- und frühen 1980er-Jahre, wobei mit Joy Division („Something Must Break“) und The Smiths („Miserable Lie“) zwei der größten lokalen Aushängeschilder, lange vor Oasis, Reverenz erwiesen wird. All dies verweist zwar historisch auf eine Zeit, in der noch nicht von der „Hood“ oder den dort ihren Machenschaften nachgehenden „Boyz“ die Rede war, in der aber der sozioökonomische Grundstein gelegt wurde für all das, was Jahre später in der Erfolgsgeschichte einer Band wie Oasis ein neues, so nicht erwartetes Ventil fand.

Selbstironisch beschließt Jirkuff die Geschichte mit dem Bild eines transportablen Billboards, unterwegs auf einem Lastwagen durch Manchester, das den Film Wild Wood ankündigt. „Coming Out Soon“, heißt es darauf, und darin bildet sich ein Reflex auf den Erwartungs- bzw. Antizipationshorizont ab, der indirekt auch die Ausstellungsversion von Wild Wood kennzeichnet. Waren dort die Bäume in ihrer unsinnigen Fluchtfantasie, „sich vom Acker zu machen“, auf das Gröbste gestrandet (während ihnen die animierten Büsche bzw. die luzide Musik zuwinkten), so endet auch die Manchester-Geschichte in einem retardierenden Nicht-von-der-Stelle-Kommen. Zwar scheinen die Gallagher-Brüder noch knapp die Kurve aus dem Kriminal gekratzt zu haben, die Gangland-Umtriebe bzw. die damit zusammenhängende Schattenökonomie scheinen hingegen beharrlich fortzubestehen. Mit den markanten Bildern des offenen Geldsacks voller Pfundnoten und den rumhängenden Jugendlichen/Dealern wird das Narrativ beschlossen, das sukzessive um vielsagende Hintergrundelemente angereichert wurde, in seinem Plot aber nie richtig von der Stelle kam (bewusstermaßen, da sie dies gar nicht konnte). „Wenn ich könnte, wär’ ich schon weg, du Arschgesicht“, sagt eine der drei Figuren in Boyz in the Wood, und gleiches gilt auch für die jugendlichen Protagonisten in der Bildgeschichte. Auch sie sind letztlich dazu verdammt, innerhalb der Verhältnisse auszuharren (und scheinen auf ihre Weise gar nicht schlecht damit zu Rande zu kommen).

Dem subkulturtheoretischen Ansinnen, soziale Schranken zu überwinden, und sei es auf „magische Weise“[12], wird bei Jirkuff ironisch Rechnung getragen, indem sie just diesen Magie-Aspekt aufgreift und ihn in seiner Fiktionalität auf die Spitze treibt. Gleichzeitig rücken die Backdrops – das, was gemeinhin den unverrückbaren, ja determinierenden Hintergrund der Geschichte ausmacht – verstärkt in den Mittelpunkt. Ja, diese werden gleichsam dynamisiert oder zumindest als veränderbar dargestellt. Damit wird unter anderem deutlich, dass auch jegliche Veränderung bei diesen Backgrounds und nicht etwa bei den Figuren ansetzen muss. Indem diese (erneut im Fiktionalen oder Animationskontext) mobilisiert werden, während die vermeintlich handelnden Personen immobil bleiben, erfährt auch das Raus-Wollen-aus-den-Verhältnissen einen neuen, aufschlussreichen Dreh.

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[1] Vgl. Manthia Diawara, Black American Cinema: The New Realism, in: Manthia Diawara (Hg.), Black American Cinema. New York/London 1993, S. 3 – 25 sowie Celeste A. Fisher, Black on Black: Urban Youth Films and the Multicultural Audience. Lanham/Toronto/Oxford 2006.

[2] Vgl. die klassische Subkulturstudie Resistance through Rituals. Youth subcultures in post-war Britain. Hg. v. Stuart Hall & Tony Jefferson. Birmingham, CCCS 1976 (Reprint bei Routledge London/New York 1993 ff.).

[3] Zu Jirkuffs zeichnerischem Werk vgl. Eva Maria Stadler, Susi Jirkuff – Werktätige Zeichnerin, in: Susi Jirkuff – I walk this way in a certain kind of feeling. Nürnberg 2013, S
. 55 ff.

[4] Vgl. als kompaktesten Überblick zu diesem Genre Andreas Friedrich (Hg.), Filmgenres: Animationsfilm. Stuttgart 2007.

[5] Vgl. dazu Susi Jirkuff, Interview mit Jeanette Pacher, zitiert auf http://secession.at/art/2013_jirkuff_d.html

[6] Siehe http://secession.at/art/2013_jirkuff_d.html

[7] Ursprünglich veröffentlicht auf der Platte Light of Worlds (De-Lite Records 1974).

[8] Vgl., um eine kleine Auswahl zu nennen, die Beiträge in Resistance through Rituals (siehe Anm. 2) sowie in John Clarke u. a., Jugendkultur als Widerstand. Milieus, Rituale, Provokationen. Frankfurt am Main 1979, Paul Willis, „Profane Culture“. Rocker, Hippies: Subversive Stile der Jugendkultur. Frankfurt am Main 1981 und Dick Hebdige, Subculture. Die Bedeutung von Stil, in: Diedrich Diederichsen/Dick Hebdige/Olaph-Dante Marx, Schocker. Stile und Moden der Subkultur. Reinbek 1983 (englisches Original 1979).

[9] Vgl. Simon Reynolds, Energy Flash: A Journey Through Rave Music and Dance Culture. London 1998, New and Revised Edition 2013, S. 41 ff. und 83 ff. sowie Peter Hook, The Haçienda. How not to run a club. London 2009, vor allem S. 145 ff.

[10] Vgl. http://www.mlwerke.de/me/me02/me02_225.htm sowie Steven Marcus, Engels, Manchester, and the Working Class. New York 1974, woraus Susi Jirkuff in Wild Wood mehrfach zitiert.

[11] Phil Cohen, Subcultural Conflict and Working-Class Community. Working Papers in Cultural Studies. No. 2. Birmingham 1972.

[12] Vgl. John Clarke, Style, in: Resistance through Rituals, S. 189 (unter Bezugnahme auf Phil Cohen) sowie Dick Hebdige, The Meaning of Mod, in: ebd., S. 93, wo von „eingebildeten Siegen“ die Rede ist.